(eine ältere Geschichte aus Maskeradenzeiten)
Sternzeit: Samstag, 06.02.2021, 10:00 Uhr
Ich ziehe um und deshalb brauche ich für mein neues Wohnzimmer neuen Teppichboden.
Früher war das einfach. Früher fuhr man auf den großzügig bemessenen Parkplatz des Baumarkts seiner Wahl, fand eine Lücke für das Auto und spazierte gemächlich in den Laden, um erst mal zu gucken, was es so gibt.
Heute ist das verboten. Heute darf man den potenziellen neuen Teppichboden nicht mehr anfassen, um die Qualität zu prüfen, und auch nicht mehr angucken, um abzuschätzen, ob der Farbton wirklich zum Sofa passt. Heute muss man auf blauen Dunst nehmen, was einem zugeteilt wird. Und man muss sein Zeug online reservieren.
Habe ich gestern Abend auch brav gemacht: 4 mal 4 Meter Teppichboden in Anthrazit mit goldenen Pünktchen und dazu fünf Übergangsschienen, Bezahlung im Markt bei Abholung. Nach der erfolgreichen Klickerei bekomme ich eine Mail, in der meine Auftragsnummer steht. Die soll ich an der Warenausgabe aufsagen oder vorzeigen oder was auch immer. Alles klar.
Heute geht es nun daran, das Material für das Projekt „Teppich verlegen“ abzuholen. Es hat geschneit über Nacht und ich brauche eine Viertelstunde, um mein Auto betriebsbereit zu machen, aber dann geht es relativ problemlos über halbwegs geräumte Straßen zum Baumarkt. Meine Helfer in Gestalt meiner Tochter und meines Schwiegersohns sind schon vor Ort, sehe ich von Weitem. Gott sei Dank, denn 16 Quadratmeter Teppichboden kriege ich beim besten Willen nicht allein ins Auto gestemmt.
Frohen Mutes biege ich in die Einfahrt zum Parkplatz ein, trete sanft auf die Bremse und staune: vor mir zwei Lindwürmer von Autos. Na gut, am Samstagmorgen um 10 Uhr ist beste Baumarktzeit in Deutschland. Deutsche Männer – und Frauen – brennen darauf, ihre Projekte zu verwirklichen, aber … warum stehen die denn alle hier herum? Warum fahren die nicht weiter?
Weil sie nicht dürfen, erfahre ich von meiner Tochter. Sie hat sich schon mal schlau gemacht und eben Selbiges herausgefunden. Vor der Einfahrt zum Parkplatz haben die Baumarketender eine Gartenlaube aufgestellt. Logisch, sowas haben sie ja auf Lager, müssen sie nur mal kurz mit dem Gabelstapler von A nach B verschieben. An dieser Bude muss ich mich anmelden, meine Auftragsnummer bekanntgeben und dann bekomme ich einen Parkplatz zugewiesen. Zugewiesen! Aha.
Ich stelle also mein Auto irgendwo an die Seite und stapfe hinüber zur Bude. Da warten schon ein paar bauwütige Männer, aber von den dienstbaren Geistern scheint – wie so üblich in Baumärkten – keiner zu Hause zu sein. Wir warten weiter und frieren. Der Wind bläst mir eisig ins Gesicht und meine Brille beschlägt wegen der blöden Maske.
Überall laufen dick vermummte Gestalten in schwarz-orangenen Outfits herum. Manche tragen Zettel, andere schieben Wagen mit Material durch die Gegend. Dann endlich taucht ein Mann mit einem Klemmbrett an der Bude auf und nun geht es los. Ich sage meinen Namen und meine Auftragsnummer auf und erfahre, dass ich mich nun mit meinem Herbie in der Parkbucht Nummer 3 niederlassen darf. Hä?!
Moment, habe ich mich eventuell verfahren und bin aus Versehen in Fort Knox gelandet? Ich sehe mich verwirrt um und begreife endlich, was hier passiert ist. Überall auf dem Platz stehen Paletten mit mannshoch gestapelten Säcken voller Blumenerde herum. An denen kleben große, knallorangene Plakate mit aufgemalten Nummern. Na schön. Ich steige wieder in mein Auto und beziehe die mir zugedachte Lücke Nummer 3.
Und was nun? Warten. Gegenüber ruft eine dieser vermummten Gestalten einem Kunden zu: „Ach, Sie müssen ja noch bezahlen!“ Richtig! Das muss ich ja auch noch.
Ich schnappe also mein Portemonnaie und mache mich auf den Weg zum Eingang, werde aber auf halbem Weg gebremst. Meine Kinder haben offensichtlich von irgendwem neue Informationen bekommen. Erst muss mir ein Mitarbeiter irgendeinen Zettel mit irgendeinem Code bringen. Mit dem darf ich dann zur Kasse und bezahlen. Wie nett.
Kurz darauf halte ich besagten Zettel tatsächlich in der Hand und begebe mich zur Kasse, welchselbige gar nicht so einfach zu finden ist. Überall Absperrband, Schilder, Pfeile: immer schön hier entlang und bloß nicht da lang. Meine Hirnzellen fangen an zu maulen. „Ich will nach Hause!“, plärrt eine und eine andere motzt: „Ernsthaft, Leute, die haben doch alle Lack gesoffen, oder?“ Ich hole tief Luft und schlage entschieden dazwischen: „Ruhe da oben! Wir brauchen den verdammten Teppich, also müssen wir da jetzt durch, klar? Alle Mann hinsetzen und Klappe halten.“
Die Dame an der Kasse begrüßt mich freundlich und lächelt gut gelaunt. Ich fädele meinen Zettel durch den Plexiglasverhau und kritzele mit meiner beschlagenen Brille einen unleserlichen Kringel auf das Kartenlesegerät. Sie wiederum fädelt meine Rechnung zu mir durch und wünscht mir einen schönen Tag. Danke schön, das wird er sicher werden, wenn ich endlich mit meinem Teppich nach Hause rutschen kann.
In dem Wahn, dass nun alles geregelt sei, wühle ich mich durch den Dschungel aus Absperrband zum Ausgang und schlittere zurück zu meinem Auto. Hui, da steht tatsächlich schon einer dieser Materialwagen. Darauf liegen eine vier Meter lange Teppichrolle, sehr akkurat auf eine Papprolle gewickelt und in Plastikfolie eingeschweißt, und meine fünf Übergangsschienen.
Toll! Super! Ich bin restlos begeistert!
Früher hätte ich dem Mitarbeiter, der mir meinen Teppich abgeschnitten hätte, sagen können, dass ich das Stück gern gefaltet mitnehmen möchte und nicht gerollt – weil ich nämlich nicht mit einem 30-Tonner vorgefahren bin, sondern mit einem lumpigen Renault Kangoo! Der hat zwar schon mal eine drei Meter lange Küchenarbeitsplatte transportiert, aber bei vier Meter Teppichrolle klimpert er nur noch bedauernd mit den Scheinwerfern.
Und vielleicht hätte ich ja bei meiner Bestellung gestern Abend meinen speziellen Verpackungswunsch irgendwo vermerken können. Vielleicht wäre da ein Kästchen gewesen, das ich vielleicht übersehen habe … und vielleicht ist der Mond doch aus Käse.
Nun stehen wir erst mal ratlos da. Egal, wie wir es auch drehen und wenden: Die Rolle passt nur schräg von vorn oben nach hinten unten ins Auto, aber dann steht sie immer noch einen halben Meter über und die Heckklappe lässt sich nicht schließen. Verdammt!
Meine Tochter meint, vielleicht könnten wir ja spontan von dem Markt ein Auto mieten. Grundsätzlich eine gute Idee, aber leider hat sie eine Kleinigkeit übersehen. In Deutschland geht nichts mehr spontan, weder Teppich kaufen noch Auto mieten und ins Schwimmbad gehen auch nicht. Wenn nämlich etwas spontan ginge, dann hätten wir jetzt ein knackig gefaltetes Teppichpaket auf dem Karren und bräuchten gar kein Ersatzauto.
Schwiegersohn ist Elektromeister, hat seinen Werkzeugkoffer immer am Mann und dazu auch noch eine Idee. Aus ein paar Kabelresten versucht er, eine Art Strippe zu basteln, mit der wir die Heckklappe festbinden könnten, aber es reicht nicht.
Mir dagegen reicht es genau jetzt.
Früher hätte ich jetzt schnell nochmal reingehen können und ein paar Spanngurte oder zehn Meter Juteseil kaufen können, aber das war eben früher – in einem anderen Land vor unserer Zeit. In mir kocht es. Ich greife mir eine dieser vermummten Gestalten und erkläre ihr – zugegeben: etwas unfreundlich – unser Problem. Sorry, aber das muss jetzt aus mir heraus, sonst platze ich. Ihr Blick spricht Bände. „Tja, was kaufste denn so’n großen Teppich, wenn de kein passendes Auto dafür hast“, flüstert er.
Schwiegersohn versucht, deeskalierend auf die Situation einzuwirken, und erläutert das Ganze noch mal etwas netter. Die vermummte Dame mustert ihn prüfend und überlegt anscheinend, ob sie es verantworten kann, ihn in die heilige Halle einzulassen. Doch, ja, er trägt so ein vorschriftsmäßiges FF-Dingsda im Gesicht. Also wird das wohl in Ordnung gehen. „Komm mal mit“, sagt sie. „Zeig mir mal, was du brauchst.“ Okay, ein Pluspunkt für die Dame, aber nur mal so nebenbei gefragt: Warum wird man als Kunde neuerdings eigentlich überall geduzt?
Egal, nach ein paar Minuten kommt Schwiegersohn mit einem Knäuel Paketband zurück. Es ist ziemlich dünn, aber dafür wenigstens lang. Es dauert nicht lange, dann hat er die Heckklappe damit irgendwie festgeknüddelt. Der Mann war bei der freiwilligen Feuerwehr und das scheint sich in allen Lebenslagen auszuzahlen. Der Mann kennt sich aus mit Knoten. Ich bin trotzdem skeptisch. Die Rolle guckt immer noch gut 30 Zentimeter unten raus. Das soll halten? „Das hält“, erklärt er mit felsenfester Überzeugung. „Nun bleib mal ganz ruhig. Ist doch lustig, ein echtes Abenteuer.“ Der Mann hat nicht nur Ahnung, sondern auch noch Nerven. Was mich betrifft, könnte ich auf solche Abenteuer locker verzichten.
So ziehen wir nun von dannen. Schwiegersohn sitzt auf meinem Beifahrersitz und umarmt die Teppichrolle, falls sie versuchen sollte, durch die Heckklappe zu entkommen. Ich schwitze jedes Mal Blut und Wasser, wenn ich bremsen und wieder anfahren muss. Von hinten unten sind seltsame Geräusche zu hören, während wir auf geheimen Schleichwegen nach Hause zuckeln.
Schwiegersohn soll recht behalten: Wir kommen tatsächlich unfallfrei mit der Rolle zu Hause an. Es klebt zwar ein dicker Batzen Schneematsch am unteren Ende, aber dem Teppich selbst ist dank der stabilen Baumarkt-Folie nichts passiert.
Doch, sieht gut aus, wie er da so liegt.