André, die Straßenbahn und ich

Wie Ihr seht, steht die Straßenbahn zwischen André und mir und das hat seinen Grund.

Ich mag Musik, und zwar von AC/DC über Bollywood und Elvis bis zu Wiener Walzer und Zauberflöte. Manchmal fühle ich mich sogar wie Opa Hoppenstedt und dann muss ich meine Platte spielen. Wenn Euch das nichts sagt, googelt mal „Weihnachten bei Hoppenstedts“. Dann wisst Ihr Bescheid.

Ich mag aber nicht nur klassische Musik, sondern auch Damen in ausladenden Ballkleidern à la Kaiserin Sissi und Herren im Frack. Von daher lag es nahe, einmal ein Konzert mit André Rieu und seinem Johann-Strauss-Orchester zu besuchen. Der glückliche Zufall wollte es, dass die Truppe am 19. Januar 2024 in Magdeburg Station machte. Meine Kinder waren so nett, mir die Karte zu Weihnachten zu schenken, und meine Tochter sogar so mutig, mich zu begleiten.

Im Vorfeld beschlossen wir, uns mit der Straßenbahn zum Ort des Geschehens – der GETEC-Arena zu Magdeburg – zu begeben, um uns die mühsame Parkplatzsuche vorher und das ebenso mühsame Herunterkommen vom Parkplatz hinterher zu sparen.

In der Theorie gestaltete sich die Anreise aus meiner Sicht äußerst bequem. Die Haltestelle der Linie 6 ist von meiner Haustür aus in zehn Minuten fußläufig zu erreichen. Ich sollte die Bahn um 18:18 Uhr nehmen. Meine Tochter wollte am Bahnhof zusteigen und gemeinsam wollten wir dann um 18:38 Uhr die Arena erreicht haben. Einlass ab 19:00 Uhr, Konzertbeginn 19:30 Uhr, also alles ganz easy – zumindest laut Plan.

Ich erreichte die Haltestelle um 18:03 Uhr und sah gerade noch die Rücklichter der Bahn Nummer 1, als sie vor meiner Nase davonfuhr. Machte ja aber nix, denn ich war ja viel zu früh dran. Also gönnte ich mir noch eine Zigarette und als die verbraucht war, fuhr Bahn Nummer 2 vor. Das Leuchtschild an der Seite verkündete, dass es sich um einen Zug der Linie 6 handelte mit dem Ziel „Betriebsfahrt“. Komischerweise hielt sie trotzdem an und öffnete einladend ihre Türen. Ein älterer Mann mit Plastiktüte stieg auch prompt ein. Ich allerdings traute dem Frieden nicht. Außerdem war ich ja immer noch zu früh dran.

Schließlich kam Bahn Nummer 3 und die sollte nun meine sein. Ich stieg ein, ließ mich in den Sitz fallen und harrte frohen Mutes der Dinge, die da kommen sollten.

Zwei Haltestellen später war mein Mut zwar immer noch da, aber leicht irritiert. Eigentlich hätte die Bahn an der Kreuzung, an der mein Aldi-Markt liegt, geradeaus fahren sollen. Tat sie aber nicht. Sie bog knallhart rechts ab und steuerte die große Eisenbahnbrücke an. Ähm … Hallo? Na gut, viele Wege führen ja bekanntlich nach Rom und wahrscheinlich auch zur GETEC-Arena.

Drei weitere Haltestellen später suchte mein Mut das Weite und meine Hirnzellen schrien: „Alarm!“ Inzwischen bewegten wir uns auf den Bahnhof Buckau zu und nun wurde selbst mir Ahnungslosen klar, dass ich in dieser Ecke komplett falsch war.

„Aussteigen!“, plärrten meine Hirnzellen unisono. „Sofort!“ Also hüpfte ich gazellengleich hinaus, um restlos überrascht festzustellen, dass ich an einer Haltestelle der Linie 5 stand. Wie bitte?!

Es stellte sich die Frage, wie ich dort hingekommen war. Ja, natürlich, mit der Straßenbahn, aber warum? An der Station, an der ich gestartet war, fährt nur die Linie 6 … und sonst nichts … und das schon ewig. Wie konnte es also sein, dass ich plötzlich auf der Linie 5 unterwegs war?

Da sich die Frage vorerst nicht klären ließ, verschob ich sie in den Wiedervorlageordner und kümmerte mich um die viel wichtigere Frage: Wie kam ich am schnellsten dorthin, wo ich eigentlich hinwollte? Ich wechselte also buchstäblich die Seiten und fragte den Fahrplan im Häuschen gegenüber. Die Linie Nummer 5 fahre letztendlich zum Klinikum Olvenstedt, erklärte er mir, aber unterwegs halte sie am Alten Markt. Okay, so viel Ahnung hatte ich noch vom Magdeburger Straßenbahnnetz. Am Alten Markt konnte ich in die Linie 6 umsteigen. Das klang nach einer praktikablen Option.

Die Linie 5 kam. Ich stieg ein und wartete gespannt, ob sie den richtigen Weg einschlagen würde. Tat sie nicht. Sie fuhr stur wie tausend Rinder exakt den gleichen Weg zurück. Kurz vor 19:00 Uhr kam ich also an der Stelle wieder an, an der ich vor einer halben Stunde schon gewesen war, nämlich an meinem Aldi-Markt.

Von meinem Mut fehlte inzwischen jede Spur und mein Geduldsfaden baumelte ausgefranst am Boden. Schlotternd stand ich in meinem feinen Flatterröckchen an der Haltestelle, belauschte ein Pärchen, dass lautstark seine Beziehungskrise ausdiskutierte, und fluchte in mich hinein.

Die Linie 6 traf ein. Zumindest stand das draußen dran. Ich enterte den Waggon und schmiedete im Stillen meinen Plan, wie ich den Fahrer ermorden würde, sollte er es noch mal wagen, um die Ecke zu fahren. Wagte er nicht. Das Gefährt setzte sich ratternd in Bewegung und … fuhr tatsächlich geradeaus! Halleluja! Somit rückte mein Ziel doch wieder in erreichbare Nähe.

Mittlerweile hatte ich mehrfach mit meiner Tochter telefonkonferiert und wir hatten vereinbart, dass sie schon mal vorfahren und an der entsprechenden Haltestelle an der Arena auf mich warten sollte.

Mein Mut hatte sich inzwischen auch wieder eingefunden und so erreichten wir um 19:09 Uhr die Haltestelle Allee-Center, wo sich ganz viele Magdeburger Straßenbahnen treffen. Leute stiegen aus, Leute stiegen ein. Auf den Sitzen mir gegenüber nahmen vier Personen Platz, ein älterer Herr, eine ältere Dame und zwei jüngere Damen.

„Zwölf soll sie fahren“, sagte die ältere Dame und schielte dabei auf die Anzeigetafel an der Haltestelle. „Jetzt ist es zehn.“

„Ja ja, jetzt bleib mal ganz geschmeidig, Mama“, entgegnete eine der jüngeren Damen. „Das schaffen wir locker noch.“

Ähm … Moment mal! Meine Ohren starteten fast automatisch ihren Lauschangriff. Der weiteren Unterhaltung der vier Leutchen entnahm ich, dass sie ebenfalls auf dem Weg nach Irgendwo waren, wo sie eigentlich um spätestens 19:30 Uhr hätten sein sollen.

„Wollen Sie etwa auch zu André Rieu?“, fragte ich nach. Die ältere Dame nickte heftig.

„Ja, und stellen Sie sich vor: Die Straßenbahn ist erst mal in eine ganz andere Richtung mit uns gefahren.“

Ach, sieh an! Hatte das Virus der Deutschen Bundesbahn jetzt auch auf die Magdeburger Verkehrsbetriebe übergegriffen? Was war hier los?

Immerhin war ich offensichtlich nicht allein mit meinen Straßenbahnproblemen und das tröstete mich ungemein. Während unserer Telefonkonferenzen hatte meine Tochter nämlich dezent durchblicken lassen, ich könne vielleicht nicht richtig hingeguckt und nicht richtig aufgepasst haben. Ha! Nun hatte ich den schlagenden Beweis, dass ich doch nicht komplett bescheuert war.

„Kleiner Aufenthalt zur Anschlusssicherung“, ließ uns der Fahrer über den Bordlautsprecher wissen.

Was?! Sag mal, geht’s noch? Die Kohlen unter meinem Hintern glühten nicht nur; es fing schon an zu brutzeln! Jetzt standen wir hier auch noch blöd rum und warteten auf Leute, die sich vertrödelt hatten? Die sollten gefälligst die nächste Bahn nehmen!

Unser aller Blicke klebten an der Anzeigetafel. Die Uhr sprang auf 19:12 Uhr, aber die blöde Karre rührte sich nicht vom Fleck. Sie gönnte sich noch weitere zwei Minuten Pause – vermutlich, um noch ein Schwätzchen mit der Linie 2 auf dem anderen Gleis zu halten.

To make a long story short: Fünf Minuten vor Toresschluss riss der Türsteher an der GETEC-Arena endlich den Schnippel von meiner Eintrittskarte ab und ja: Es gab noch mehr Leute um uns herum, die aus irgendwelchen Gründen auf den letzten Drücker kamen. Nun durften wir die heilige Halle betreten und prompt warteten neue Hürden auf uns, die überwunden werden mussten.

„Ins Parkett?“, fragte eine freundliche Dame im Schneiderkostüm. „Da müssen Sie nach unten.“ Alles klar. Nur leider staute sich eine Menschenmenge auf der Treppe abwärts. Warum das denn jetzt wieder?

„Geht gleich weiter“, sagte ein netter Mann im Anzug. „Das Orchester läuft grade da unten durch.“ Aha. Das leuchtete mir ein. Die Damen brauchten ja etwas Platz mit ihren ausladenden Roben. Da konnten wir Normalsterblichen uns natürlich nicht einfach dazwischen mogeln.

Endlich durften wir die Treppe hinuntersteigen – nur, um ein weiteres Mal aufgehalten zu werden, dieses Mal durch eine geschlossene Tür, die sich hartnäckig weigerte, uns passieren zu lassen. Warum? Auch diese Frage wird bis zum Sankt-Nimmerleinstag ungeklärt bleiben.

Applaus schallte aus der Halle zu uns nach draußen, was wohl bedeutete, dass der Maestro inzwischen die Bühne betreten hatte. Wir warteten. Dann klang Musik an unsere Ohren, die ich als „Einzug der Gladiatoren“ identifizieren konnte – genau das richtige Stück in unserer Situation. Meine Füße nahmen auch sofort den Rhythmus auf und wollten losmarschieren. Leider weigerte sich diese blöde Tür immer noch, die Gladiatoren einziehen zu lassen.

Dann endlich tat sich das Tor auf. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen: Ich marschierte zum Takt der Musik in die Arena und winkte fleißig nach allen Seiten … wie beim Rosenmontagsumzug. Wenn schon, denn schon.

Wer glaubt, damit sei nun alles in Ordnung gewesen: Fehlanzeige. Schließlich mussten wir noch unsere Plätze finden und damit tauchte ein neues Problem mitten im spärlich beleuchteten Gang zwischen den Sitzreihen auf. Auf unseren Tickets stand geschrieben: Reihe 34, Plätze 39 und 40. Reihe 34 war bald gefunden, die Plätze 35 bis 38 waren leer, die Plätze 39 und 40 dagegen besetzt. Konnten die Leute nicht mehr lesen oder hatten die manche Karten doppelt verkauft?

„Egal jetzt“, sagte meine Tochter völlig richtig und wir setzten uns einfach auf die freien Plätze neben unseren eigentlichen. Und falls jemand gekommen wäre und gewagt hätte, etwas dagegen einzuwenden, wäre das eine sehr dumme Idee gewesen, klar soweit?

Du lieber Himmel! Ich war in Mumbai und habe Shah Rukh Khan die Hand gedrückt. Das war lange nicht so kompliziert wie zu einem Konzert von André Rieu zu gelangen. Okay, das war auch vor acht Jahren.

Der Rest des Abends gestaltete sich dann doch noch amüsant und erholsam. Nach einem netten Konzert sowie einem netten Snack und netten Drinks im netten Restaurant Alex machten wir uns nach Mitternacht auf den Heimweg. Nach den Erfahrungen des heutigen Tages hatte ich allerdings keine Lust mehr auf Öffentlichen Nahverkehr. Also versuchten wir, am Bahnhof ein Taxi für mich zu finden … tja.

Zum Glück haben wir ja heutzutage jederzeit unsere Telefone zur Hand. Also rief ich – jetzt wieder frohen Mutes und gut gelaunt – die Taxizentrale an.

„Bitte beachten Sie“, sagte die Computerstimme am anderen Ende. „Zum Zweck der Datenverarbeitung zeichnen wir Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und Blablabla auf. Nach dem Blabla-Gesetz (oder der Blabla-Verordnung) haben Sie das Recht blablabla …“ Was? Zu schweigen und meinen Anwalt anzurufen? Was soll der Blödsinn?

„Ich möchte einfach nur ein Taxi“, murmelte ich schüchtern in den Monolog der Computerlady. Tatsächlich hatte ich schon zwei Minuten später eine resolute Männerstimme in der Leitung, die meinen Wunsch entgegennahm und mit einem knappen „Jou, kommt sofort.“ bestätigte. Na also, ging doch – und hatte kaum zehn Sekunden gedauert.

In Indien wäre mir das nicht passiert. In Indien wären in dem Moment, in dem ich meinen Fuß aus dem Restaurant hinausgesetzt hätte, mindestens zehn Taxis und Rikschas um mich herumgekurvt und hätten sich darum gerissen, mich nach Hause fahren zu dürfen.

„Funktioniert in diesem Land überhaupt noch irgendwas?“, fragte die Taxifahrerin, der ich die Geschichte meiner heutigen Odyssee erzählte.

Ja. Taxi funktionierte noch. Liebe Grüße an alle Taxifahrer – innen und außen – gehen hiermit raus!

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